J. M. Kapczynski u.a. (Hrsg.): The Arts of Democratization

Cover
Titel
The Arts of Democratization. Styling Political Sensibilities in Postwar West Germany


Herausgeber
Kapczynski, Jennifer M.; Kita, Caroline A.
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 268 S.
Preis
$ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Phillip Wagner, Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg / Institute of European Studies, University of California, Berkeley

Wie fand die westdeutsche Bevölkerung im Schatten von Nationalsozialismus und Völkermord zur Demokratie? Viele voluminöse Bücher wurden zu diesem Thema geschrieben, doch noch immer erregt es große Aufmerksamkeit. Der Aufstieg des Rechtspopulismus hat das Interesse an der Demokratiegeschichte in den letzten Jahren nicht nur neu belebt, sondern ebenfalls dazu geführt, die Umstrittenheit der westdeutschen Nachkriegsdemokratie stärker als zuvor ins Zentrum zu rücken. Das ist der Ausgangspunkt des von Jennifer M. Kapczynski und Caroline A. Kita herausgegebenen Sammelbandes, der aus dem 24th Biennial St. Louis Symposium on German Literature and Culture (2018) hervorgegangen ist, einer wichtigen Tagungsreihe der US-amerikanischen German Studies.

Der Band zeichnet sich dadurch aus, dass er vor dem Hintergrund der Debatte über die Krise der Demokratie in doppelter Hinsicht eine frische Perspektive auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte entwirft. Zum einen lautet der suggestive, wenn auch nicht komplett neue Vorschlag der Herausgeberinnen, dass erst einmal die Grundlagen der Demokratie erforscht werden müssen, bevor ihre Notlage konstatiert werden könne.1 Doch geht es Kapczynski und Kita weniger um die Entstehung der institutionellen Rahmenbedingungen in den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik. Denn eine Perspektive allein auf Institutionen kann nach Meinung der Herausgeberinnen die Durchsetzung der Demokratie nach 1945 nicht hinreichend erklären. Deswegen richten sie ihr Interesse darauf, inwieweit sich demokratisch definierte Haltungen, Denkmuster und Sensibilitäten, kurzum „demokratische Subjektivitäten“ (S. 3), ausbreiten konnten. Zum anderen geht es den Herausgeberinnen nicht darum, ein weiteres Mal eine Erfolgsgeschichte westdeutscher Demokratisierung zu erzählen, sondern gerade die Fragilität der Nachkriegsdemokratie in den Mittelpunkt zu rücken. Mit den Politikwissenschaftlerinnen Paula Diehl und Aletta Norval nehmen sie an, dass demokratische Subjekte durch Wörter, Bilder und Klänge immer wieder aufs Neue performativ hergestellt werden müssen. Das ermöglicht einen Fokus darauf, wie unterschiedliche politische, gesellschaftliche und kulturelle Gruppen demokratische Denk- und Verhaltensformen zu stiften versuchten.

Der Sammelband überzeugt auch dadurch, dass die Beiträge das Programm der Herausgeberinnen überwiegend schlüssig umsetzen. Die Aufsätze erhellen zum einen, wie unterschiedliche Akteure neue Medien schufen, um die Demokratie in der Nachkriegszeit zu definieren, zu verankern und gegenüber dem Weltkommunismus im Kalten Krieg zu verteidigen. Nach einem rahmenden Aufsatz von Kathleen Canning, in dem es vor allem um die konfligierenden Partizipationspraktiken in der frühen Weimarer Republik geht, zeigt Sean A. Forner bestrickend, wie Politiker, Intellektuelle und Geschäftsleute in den 1950er-Jahren Gesprächsrunden einführten, in denen Podium und Publikum eine demokratisch konnotierte Debattenkultur einübten, selbst wenn für die Gründerväter dieser Debattierrunden niemals vollständig klar war, ob das Publikum ihre Impulse wie gewünscht auffasste. Die Gewöhnung an Konflikt und Kontroverse stand auch im Mittelpunkt des intellektuellen Wirkens von Axel Eggebrecht, eines Mitbegründers des Nordwestdeutschen Rundfunks. Kita verdeutlicht anhand eines Radiofeatures, dass Eggebrecht in den 1950er-Jahren nach nichts weniger als einer Demokratisierung des Hörens strebte. Ähnlichen Entwicklungen widmet sich auch Frank Mehring. Er stellt heraus, wie die Funktionäre des Marshallplans mittels Fotos und Ausstellungen die positive Zukunftsvision einer liberalen Demokratie zeichnen wollten.

Ebenfalls gelungen sind diejenigen Aufsätze, die verdeutlichen, dass die Verinnerlichung von demokratischen Haltungen in der Nachkriegszeit als ein pädagogisches Projekt verstanden wurde. Kapczynski untersucht die Förderung von Jugendtheater durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Anhand von zwei Tagungen kann die Autorin nachweisen, dass die Verantwortlichen der Bundeszentrale ein demokratisches Rollenverständnis einüben wollten, obwohl sie nie sicher sein konnten, ob damit demokratische Haltungen verinnerlicht und nur vorgespielt wurden. Anthony D. Kauders zieht danach eine große Linie vom „Gruppenexperiment“ des Instituts für Sozialforschung in den frühen 1950er-Jahren bis zur Hochphase der antiautoritären Pädagogik um 1968. Ihm geht es darum, die Genealogien eines „starken“ Demokratiebegriffs freizulegen (S. 98), der Demokratie nicht nur als eine institutionelle Ordnung, sondern als eine Denk- und Verhaltensform begriff. Alice Weinreb konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die gleiche Ära, richtet ihren Fokus jedoch stärker auf die Konsumgeschichte. Sie verdeutlicht, wie Ernährungsexperten während des ökonomischen Booms der 1950er- und 1960er-Jahre die Männer und Frauen zu einem demokratischen Konsum erziehen wollten: Sowohl Arbeitnehmer als auch Hausfrauen sollten lernen, eigenständig und verantwortungsvoll Konsumentscheidungen in der Kantine und im Supermarkt zu treffen.

Andere Beiträge – so gehaltvoll sie im Einzelnen auch sein mögen – knüpfen dagegen weniger an das Rahmenthema des Sammelbandes an. So geht es in Darcy Buerkles detailliert belegter Studie nur am Rande um Demokratie. Im Mittelpunkt steht die Marginalisierung von US-Frauenverbandsfunktionärinnen in Westdeutschland, die unter Verdacht standen, nicht nach den geltenden Normen heterosexueller Weiblichkeit zu leben. Tobias Boes‘ methodisch anregender Aufsatz über die „Bibliomigration“ (S. 133) von Büchern ins besetzte Deutschland kommt nur kurz auf die Rolle dieser Druckwerke für den Demokratieexport zu sprechen. Schließlich ist Maja Figges Aufsatz vor allem eine subtile Analyse von rassistischen Stereotypen in westdeutschen Kinofilmen und nur sekundär ein Beitrag zur Demokratiegeschichte.

Darüber hinaus lässt der Sammelband einige konzeptionelle Fragen offen. Zuerst stellt sich nach der Lektüre der Texte die Frage, wie die breite Öffentlichkeit die Versuche aufnahm, eine demokratische Subjektivität zu stiften. Im Zentrum fast aller Aufsätze stehen die Demokratisierungsprojekte mehr oder minder bekannter Intellektueller, Experten und Medienmacher. Am deutlichsten zeigt das vielleicht Paul Michael Lützelers souveräne Darstellung von Hermann Brochs literaturpolitischen Reeducation-Projekten. Aber auch in den anderen Beiträgen erfahren wir nur wenig darüber, wie die verschiedenen Teile der Gesellschaft auf die medialen, pädagogischen und literarischen Demokratisierungsprojekte reagierten. Wie die Rezeptionsperspektive integriert werden kann, hat beispielsweise vor kurzem Stewart Anderson mit einer mediengeschichtlichen Arbeit über die Verhandlung von Moral in Fernsehfilmen der langen 1960er-Jahre gezeigt.2 Und auch in dem vorliegenden Band finden wir einige Hinweise, wie die Perspektive der Adressaten und Adressatinnen zu erforschen wäre. So nutzt Forner etwa ein Foto zur Analyse der Kommunikationsprobleme zwischen Arbeitern und Intellektuellen, während Buerkle verdeutlicht, dass Egodokumente gewinnbringend für die Analyse der Handlungsmacht historischer Akteure herangezogen werden können. Hier sollten weitere Studien ansetzen, die sich für die Aneignung von Demokratie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft interessieren.

Offen bleibt auch die Frage, welche Folgen es für die Demokratiegeschichte haben könnte, wenn die Potentiale der Subjekttheorie noch umfassender ausgeschöpft würden. Interessanterweise werden in dem Sammelband nicht diejenigen Autorinnen und Autoren rezipiert, die sich in der Tradition von Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie mit der Produktion demokratischer Subjekte auseinandergesetzt haben. Die These dieser Studien lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass demokratisch konnotierte Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein, Engagement, ja selbst Kritik- und Konfliktbereitschaft in liberalen Gesellschaften nicht aufgrund einer Abwesenheit des Staates entstehen, sondern dass staatliche und gesellschaftliche Institutionen subtile Regierungstechniken einsetzen, um diese Denk- und Handlungsmuster aktiv zu fördern.3 Solche Arbeiten sensibilisieren uns für die Mechanismen, durch die in Demokratien freies Verhalten ermöglicht, aber ebenso eingehegt und politisch instrumentalisiert wird. Wie würde eine Geschichte der westdeutschen Demokratie aussehen, die die Widersprüche analysiert, die daraus entstehen, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen ermächtigt werden sollten, sich demokratisch zu verhalten, aber gleichzeitig in ihrem Handeln angeleitet, kontrolliert und mitunter diszipliniert wurden? Es gibt bereits einige Versuche, diesen Aspekt stärker als bisher zur Geltung zu bringen.4 In dem Sammelband ist diese Sichtweise jedoch nur selten auszumachen. Andeutungsweise findet sie sich in Jan Uelzmanns Aufsatz über die PR-Filme der Adenauer-Regierung: Diese Filme sollten die liberale Demokratie bewerben, bedienten sich aber einer illiberalen Männlichkeitssymbolik, die aus der Tradition des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus kam.

Die kritischen Nachfragen mindern keineswegs die Stärken des Sammelbandes. Er überzeugt nicht nur darin, neue und spannende Studien zur westdeutschen Nachkriegsgeschichte zusammenzubringen, sondern auch dadurch, originelle Fragehorizonte einer Kultur- und Mediengeschichte der westdeutschen Demokratie zu eröffnen. Deswegen bleibt zu hoffen, dass „The Arts of Democratization“ der deutschen Zeitgeschichte auch über die 1950er- und 1960er-Jahre hinaus Impulse geben kann.

Anmerkungen:
1 Das ist auch der Zugang von Till van Rahden, Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, Frankfurt am Main 2019.
2 Stewart Anderson, A Dramatic Reinvention. German Television and Moral Renewal after National Socialism, 1956–1970, New York 2020; vgl. meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 06.11.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49774 (10.10.2022).
3 Dazu nur Barbara Cruikshank, The Will to Empower. Democratic Citizens and Other Subjects, Ithaca 1999.
4 Nur drei Beispiele: Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020, v.a. S. 29–45; Till Kössler / Phillip Wagner (Hrsg.), Themenheft: Moulding Democratic Citizens. Democracy, Citizenship and Education in Post-1945 Western Europe, in: European Review of History 29 (2022, im Erscheinen); sowie in einer sehr weiten Perspektive Thomas Mergel, Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2010.